Wie man eine Figur erschafft (3), oder: Die schwere Kindheit

Oh weh, schon wieder mehr als ein Quartal rum und noch nichts gebloggt. Nu aber …

Beim letzten Mal habe ich kurz dargestellt, was alles bei der Beschreibung einer Romanfigur zu beachten ist. Dabei habe ich mich allerdings ausschließlich auf die Äußerlichkeiten beschränkt. Zu einer vollständigen Figur gehört jedoch wesentlich mehr als das. Was bisher noch fehlt, sind die Eigenschaften, die den eigentlichen Charakter ausmachen, die psychologischen bzw. soziologischen Eigenschaften. Bevor nun der geneigte Leser aufstöhnt und sagt, das sei doch alles übertrieben und ob man nicht die Kirche im Dorf lassen solle, sei an ein paar Dinge erinnert:

1. Die Biografierung einer Figur ist kein Selbstzweck. Sie dient dazu, sich selbst über die Figur besser klarzuwerden, sie kennenzulernen, ihre Macken, ihre Stärken und ihre Schwächen einschätzen zu können, zu wissen, wie sie zu dem geworden ist, was sie ist, wie sie in bestimmten Situationen reagieren wird, und warum. Nur wer seine Figuren kennt und sie im Griff hat, ist in der Lage, sie glaubwürdig und überzeugend agieren zu lassen.

2. Je wichtiger die Figur für die Geschichte, desto genauer sollte man sich im Vorfeld Gedanken über sie machen. Dies führt zwangsläufig dazu, dass eine Biografie bzw. ein Steckbrief für eine Figur umso umfangreicher wird, je stärker ihre Rolle in der Geschichte ist. Nicht zu jeder Figur muss jeder Aspekt ausgearbeitet werden. Das volle Programm gibt’s nur für die Hauptfiguren.

3. Je mehr Figuren, je mehr Verbindungen untereinander, desto größer der Biografierungsaufwand. Schreiben Sie ein Roadmovie, in dem es um die Geschichte des Ich-Erzählers geht, der versucht, auf einem Motorrad-Roadtrip durch die Wüste von Arizona über eine verflossene Liebe hinwegzukommen, und dabei nur zwei eingeborene Navajo-Indianer trifft, werden Sie mit der Biografiererei schnell fertig sein. Anders, wenn Sie ein Historienepos über drei Generationen hinweg schreiben.

Wenn ich anfange, eine Figur zu biographieren, habe ich einige Eckpunkte bereits im Kopf. Ich weiß zum Beispiel, welches Geschlecht die Figur hat, wie alt sie ist und welche Rolle sie in der Geschichte spielen soll (siehe „Wie man eine Figur erschafft“ Teil1 und Teil 2). Um die Figur genauer kennenzulernen, beginne ich die Biographie dann quasi mit ihrer Vorgeschichte: Wer sind ihre Eltern? Was sind ihre Berufe? Wo haben sie gelebt, als die Figur geboren wurde? Hat die Figur Geschwister? Schon diese Eingangsfragen haben starken Einfluss darauf, welche Frühentwicklung die Figur durchlebt hat. Der als viertes Kind eines Duisburger Stahlkochers und einer Schneiderin geborene Sohn wird anders aufwachsen als die einzige Tochter eines Universitätsprofessors und einer Grundschullehrerin im Westteil Berlins zur Zeit des geteilten Deutschlands.

Dann folgen die Fragen nach den Umständen, wie die Figur aufwuchs. Wie war das soziale Umfeld, wie die wirtschaftlichen Verhältnisse im Elternhaus? Hat es Änderungen des sozialen Umfeldes gegeben, etwa durch Umzüge oder Arbeitsplatzwechsel der Eltern? Gab es Scheidungen während der Kindheit und Jugend? War die Erziehung streng oder locker? Wie gestaltete sich der schulische Werdegang?

Es schließt sich die Phase an, in der die Figur dem Elternhaus entwächst. Der elterliche Einfluss nimmt ab, Freunde werden wichtiger. Welchen Einfluss hatten Freundeskreise auf die Entwicklung der Figur? Wie hat sich ihr Verhältnis zum Elternhaus während der Pubertät entwickelt? Hat die Figur weiterführenden Schulen besucht? Was beeinflusste ihre Berufswahl? Sollte die Person ihrem Umfeld entwachsen und gesellschaftlich aufgestiegen sein, wie hat sie das geschafft? Bei einem Abstieg: Was hat das verursacht?

Die Faktoren, die sich rund um das Milieu spinnen, in dem die Person aufgewachsen ist, sind vielleicht der wichtigste Aspekt in der Soziologie eines Menschen. Bei Romanfiguren wie bei echten Menschen. Wer diese und ähnliche Fragen beantworten kann, wird erkennen, warum eine Person/Figur so ist wie sie ist. Nur mit dem Unterschied, dass wir dies bei Romanfiguren selbst in der Hand haben.

Bei den Aspekten des Schöpfungsaktes in unserer Figurenküche sollten wir nicht vergessen, dass es häufig die ungeordneten Verhältnisse sind, die eine Figur spannungsreich machen. Was wir einem Menschen in der Realität meistens weniger wünschen, kann einer Romanfigur den anregenden Touch verleihen, der den Leser erst auf sie neugierig werden lässt. Eine Figur kann ohne Eltern im Waisenhaus aufgewachsen sein, die Eltern könnten mittellos oder kriminell gewesen sein. Die Figur könnte unter Trennungen der Eltern gelitten haben und in einer Patchworkfamilie aufgewachsen sein, in der es Spannungen unter womöglich ethnisch gemischten Geschwistern gab. Sie könnte ein unerwünschtes Kind gewesen oder von ihren Geschwistern gequält und gegängelt, in der Schule ausgegrenzt oder von Mitschülern gemobbt worden sein. Die Figur könnte bereits in jungen Jahren in schlechte Gesellschaft geraten oder von zu Hause abgehauen sein. Und so weiter und so weiter. Die Palette ist endlos. Häusliche Gewalt, sexueller Missbrauch, Drogenkonsum, Alkoholismus, Kriminalität, Okkultismus, Radikalismus, dunkle Geheimnisse in der Vergangenheit … Lassen Sie Ihre Phantasie spielen. Legen Sie Ihren Figuren ruhig ein paar Steine in den Weg, geben sie ihnen ein paar Ecken und Kanten mit. Was sie nicht umbringt, macht sie nur härter. Und unterhaltsamer.


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